04242024

Wir Sachsen setzen auf Spitze, nicht auf Platz

Ministerpräsident Stanislaw Tillich im Gespräch mit der JVG

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Machen die Vorhaben der neuen Bundesregierung wie zusätzliche Rentenleistungen, eine familienfreundliche Bundeswehr, der Ausbau der regenerativen Energien, nicht Steuererhöhungen notwendig?

Wir haben als CDU Steuererhöhung vor der Wahl ausgeschlossen und das soll und muss auch nach der Wahl so bleiben. Für neue Prioritäten müssten dann andere Ziele zurücktreten.

Die Bundesregierung wird einen stärker sozialdemokratischen Kurs fahren … Wie wollen Sie das Ihren Wählern erklären?

Die Kategorisierung in wirtschaftsnahe und sozialdemokratisch-nahe Politik halte ich für verfehlt – wir Deutschen wären nicht so erfolgreich in unserer Wirtschaftspolitik, im Schaffen von Arbeitsplätzen, gerade im Mittelstand, wenn wir nicht für ein Klima gesorgt hätten, in dem sich die Wirtschaft gut entwickeln kann. Die Finanzminister sagen: „In guten Zeiten werden die Haushalte verdorben.“ Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir nicht das Maß der Dinge verlieren. Wenn es einem wirtschaftlich gut geht, kann man soziale Ungerechtigkeiten mildern, auch wenn es kostspielig ist – ich denke da an die Anpassung der Renten … Doch wir müssen immer die zukünftigen Generationen im Blick haben, und dafür sorgen, dass diese nicht überlastet werden. Es ist immer ein Scheck auf die Zukunft, den man ausstellt. Man hofft, dass die wirtschaftlichen Bedingungen sich nicht ändern, dass man das Agreement, das man zwischen der Politik und den Generationen eingegangen ist, einlösen kann. Doch wenn wir in eine Krise geraten, sieht die Sache grundlegend anders aus.

Sie haben als sächsischer CDU-Ministerpräsident selbst ja deutliche Kritik an den Koalitionsvereinbarungen von Union und SPD im Bund geübt, zum Beispiel am Mindestlohn…

Der Mindestlohn ist für uns im Osten nicht die Lösung, die dazu führt, dass weniger Menschen arbeitslos sind – so verständlich der Wunsch der Menschen auch ist, für ihre Arbeit ordentlich bezahlt zu werden. Aber wir reden hier von Menschen, die keine Ausbildung haben, die schwer vermittelbar sind, ihnen wird mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert.

Es ist eine Fehlentwicklung, wenn ein Unternehmer seine Facharbeiter fair bezahlt, aber er selbst mit seinem Sohn einfache Arbeiten verrichtet, weil die Kosten für diese einfachen Arbeiten, ausgeführt durch den Facharbeiter, sonst zu hoch sind und damit die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens futsch ist.

Mir ist es wichtig, dass die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Unternehmen keinen Schaden nimmt. Wir wollen verhindern, dass Arbeitsplätze verloren gehen. Insgesamt aber können wir mit dem im Koalitionsvertrag ausgehandelten Mindestlohn-Kompromiss leben. Es wurde eine Übergangszeit vereinbart, in der wir uns darauf einstellen können.

Was hat der Freistaat Sachsen zu bieten, das andere Länder ermangeln?

Es ist der wiedergewonnene Stolz der Sachsen auf ihre Heimat und auf ihr Land – mit der Wiedervereinigung und den Chancen, die sich daraus ergeben haben. Die Sachsen gehören zu einem Menschenschlag, der nicht auf Platz, sondern auf Spitze setzt. Deshalb auch dieses Engagement und Streben, immer einen Tick besser zu sein als andere – im wirtschaftlichen Wettbewerb, aber auch in der Kultur, Gesellschaft, in der Medizin und in der Bildung.

Sachsen wird von einer christlich-liberalen Koalition und von einem CDU-Ministerpräsidenten regiert. Was ist Ihr Erfolgsgeheimnis?

Ein großer Anteil an diesem Erfolg liegt darin begründet, dass wir, gerade zwischen der CDU und der FDP, eine grundsätzlich gemeinsame

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Vorstellung und die größte Schnittmenge davon haben, wie eine Gesellschaft auszusehen hat. Zweitens haben sich in der Koalition zwei Partner gefunden, die zwar eigenständig, aber auch gleichzeitig konstruktiv miteinander versuchen, diesen Anspruch wahr werden zu lassen. Bei unserer Landes-FDP gab es keine Führungs- und Flügelkämpfe, sondern eine klare Positionierung von der Spitze bis in die Gliederung hinein. Und diese FDP weiß um die Befindlichkeiten in unserem Land. Daraus erwächst das Vertrauen in der Zusammenarbeit.

Die FDP ist bei den Bundestagswahlen gescheitert. Was empfehlen Sie den Liberalen für einen Wiederaufstieg?

Menschen mögen im Urlaub nicht mit denen einen Berg besteigen, die sich auf dem ganzen Weg streiten. Das war in der FDP die letzten Jahre der Fall gewesen. Die FDP muss sich in sich wieder festigen und es muss klar sein, wer das Sagen hat. Der neue Vorsitzende darf nicht gleich wieder in Frage gestellt werden.

Das Durchschnittsmitglied der SPD ist 59 Jahre alt, in der Union sogar noch ein halbes Jahr älter – wie können die Parteien junge Menschen erreichen, sie motivieren, sich in der Politik zu engagieren?

Das ist eine der größten Herausforderungen überhaupt für die politischen Parteien. Wir beobachten ein Anwachsen an Bürgerbegehren, die dem Wunsch Ausdruck verleihen, das eine oder andere zu regeln. Die politischen Parteien müssen aber den Gesamtzusammenhang im Blick behalten und das Interesse an einem kontinuierlichen Mitgestalten der Gesellschaft wecken. Das bedeutet große Anstrengungen. Ich meine, dies hat auch etwas mit dem guten Zustand der Bundesrepublik zu tun. Man ist eher daran interessiert, das, was man hat, zu verteidigen, als nach Neuem zu streben. Das ist in aufstrebenden Demokratien wie zum Beispiel in Osteuropa ganz anders. Dort wollen die jungen Menschen etwas verändern.

Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman macht sich in der New York Times über “those depressing Germans” lustig. Wie können wir ein Stückchen mehr Optimismus in unser Land bringen?

Wir sind das Land der Ingenieure, daher hängt vieles heute mit naturwissenschaftlichen Prozessen und Gesetzen zusammen: ob ein Handy Strahlung hat oder ein Gigaliner den Verkehr stört… Alles was neu ist, wird in Deutschland episch breit diskutiert. Sicherlich ist es notwendig, darüber zu reden, aber nicht immer nur unter dem Vorzeichen, welche Risiken sich ergeben. Es wäre besser, als erstes die Frage nach den Chancen zu stellen und zu beantworten – und dann die Risiken zu beurteilen. Das ist etwas, das Deutschland eigentlich besser kann, die Mittelständler machen es täglich vor.

Sachsen profitiert neben Berlin am meisten vom Länderfinanzausgleich. Werden Sie diesen noch nach 2019 in Anspruch nehmen oder eifern Sie Bayern nach, das sich vom Empfängerland zum Geberland hocharbeitete?

Wir sind noch weit davon entfernt, ein Geberland zu sein und noch stark abhängig von Hilfen der EU und des Bundes.

Strebt Sachsen die Rolle einer „Lokomotive Ost“ an?

Ich glaube, wir sind es schon. Wir sind das bevölkerungsreichste Land. Viel hat das mit der Geschichte Sachsens zu tun. In Sachsen war schon früh selbstständiges Denken angesagt. Hier hat sich das Bürgertum entwickelt: Freiberg ist die erste Stadt, in der Bergleute aus der sogenannten Leibeigenschaft entlassen worden sind. Aus dem für den Bergbau unverzichtbaren Schmiedehandwerk hat sich die Industrie entwickelt. Das Wesentliche ist, von dieser Tradition gestärkt, nach vorne zu schauen – fußend auf dem Stolz auf das eigene Land und der Offenheit für Neues. Hinzu kommen noch Bildung und Wissenschaft – und nicht immer nur das Infragestellen der eigenen Leistung, sondern die Überzeugung: Wir können es.

Im sächsischen Landtag ist die NPD vertreten. Welche Konsequenzen hat das?

Für unser Land ist das bitter. Es ist eigentlich auch eine Schande für die Leistung, die die Menschen hier erbringen. Dass sie quasi immer wieder durch die NPD und diejenigen, die sie wählen, klein gemacht werden. Denn dem Ansehen Sachsens schadet die NPD: Sie vertritt eine Ideologie, die den Sachsen seit Jahrhunderten fremd ist.

Alle Länder haben jetzt ein Verbot der NPD beantragt – bemerkenswerterweise nicht die Bundesregierung, nicht das Parlament. Verstehen Sie das?

Nicht die Anzahl derjenigen, die in Karlsruhe klagen, ist entscheidend für das Ergebnis. Die Unabhängigkeit des Gerichtes sollte nicht davon beeinflusst werden, sondern die Stichhaltigkeit des Anliegens sollte die Richter zu einem abgewogenen Urteil kommen lassen.

Die NPD ist dabei, sich selbst zu zerlegen. Gibt ihr der Verbotsantrag der Bundesländer unnötige neue Aufmerksamkeit?

Nein, das glaube ich nicht. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.

Sehen Sie gute Chancen für ein NPD-Verbot?

Wir hätten nicht ein Verbot beantragt, wenn wir nicht davon überzeugt wären, dass es der richtige Weg ist. Wir haben in Sachsen die Erfahrung gemacht, dass die NPD mit öffentlichen Geldern Strukturen aufbaut, die der Nährboden für deren Ideologie sind. Das dürfen wir nicht zulassen. Darüber hinaus bleibt jedoch die Aufgabe der tagtäglichen Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und das Werben für Demokratie in der Gesellschaft.

Ist die größere Freizügigkeit in der EU mehr eine Chance zur Beschäftigung qualifizierter Fachkräfte als eine Gefahr des Sozialtourismus?

Sachsen ist seit 1999 für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Europa. Ein möglicher Missbrauch der Sozialsysteme ist eher die Folge schlechter gesetzlicher Regelungen.

Was wirkt am besten gegen tagtägliche Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus?

Alle sind gefordert, gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus die Stimme zu erheben. Unsere Freiheit wird nicht kleiner, wenn wir sie mit anderen teilen. Zuwanderung ist seit Jahrhunderten eine Bereicherung für uns. Ein großer Teil sächsischen Reichtums, ob in Kultur oder Wirtschaft, resultiert daraus, dass aus allen Teilen der Welt Menschen zu uns nach Sachsen gekommen sind. Menschen, die heute zu uns kommen, müssen wir helfen, auch heute wieder hier eine Heimat zu finden.

Wie könnte es zu einem stärkeren deutsch-jüdischen Miteinander kommen?

Man darf jüdisches Leben nicht allein auf die in sich relativ abgeschlossenen Synagogen und Gemeinden simplifizieren. Ich bin überzeugt, wenn die Neugierde in anderen gesellschaftlichen Gruppen an diesem Leben entsteht, dann öffnet sich das.

Wäre es nicht eine vielversprechende Möglichkeit, die Zuwanderung von Israelis zu fördern und ihnen zu sagen: Ihr seid willkommen?

Israel ist nicht nur eine große Technologienation und ein Volk, das in der Region und darüber hinaus eine große Rolle spielt, sondern Israel ist auch ein sehr moderner Staat. Das ist den Leuten hierzulande viel zu wenig bewusst. Es wäre deshalb wünschenswert, die Beziehungen auf einen modernen Stand zu bringen.

Bundeskanzlerin Merkel sagte 2008 in der Knesset: „Israels Sicherheit ist für Deutschland nicht verhandelbar.“ Wäre es nach dem Agreement in Genf für Deutschland nicht passend – gerade nach dieser Aussage der Kanzlerin – zumindest verbal stärkeres Verständnis für die Sorgen Israels zu zeigen?

Was wir damals gesagt haben, gilt. Deutschland sollte sich immer wieder dazu bekennen. Stabilität im arabischen Raum geht nur via Israel. Und deswegen auch das Bekenntnis zur tragenden Rolle Israels in der arabischen Welt. Das sollte, wenn es notwendig ist, erneuert werden.

Es gehen immer weniger Menschen in die Kirche oder Synagoge, während immer mehr Leute in der Moschee beten. Was kann die Politik tun, um mehr christlich-jüdische Werte zu verankern, insbesondere bei der jüngeren Generation?

Das fängt im Prinzip im Elternhaus an. Dessen positiver Einfluss muss wieder gestärkt werden. Ich glaube, dass ich vielleicht besser als jemand, der im Westen groß geworden ist, vergleichen kann, wie der Einfluss des Staates immer größer und größer wird. Fangen wir mit der Kinderbetreuung an: Es ist wichtig, dass die Kinder Sozialkompetenz erlangen. Doch die kann ich unter zwei Geschwistern auch erlangen, da muss ich nicht in den Kindergarten gehen.

Was gibt Ihnen Ihr Glaube?

Ich habe einmal in einem Zeitungsinterview gesagt: Gott ist mein Anker. Ich habe das gesagt, obwohl in Sachsen nur 25 Prozent der Menschen gläubig sind. Gott ist mein Halt.

Vielen Dank.

 

Ministerpräsident Stanislaw Tillich sprach mit JVG-Redakteuren Elisabeth Neu und Rafael Seligmann in der Sächsischen Landesvertretung in Berlin

Photo Credit: JVG/Carola Piegert

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