04192024

Land der Lebensfreude

Eine junge deutsche in Israel

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Israel? Das wäre mir viel zu gefährlich! Da kann man doch nicht normal leben.“ „Israel? Nein danke! Solange Netanyahu die Palästinenser ihrer Rechte beraubt, fahre ich da nicht hin.“ „Israel? Cool! Das Nightlife in Tel Aviv ist super!“
Ich hätte vor meiner Abreise problemlos eine Top-Ten-Liste der dümmsten Klischees erstellen können, die hierzulande über Israel kursieren. Und vermutlich in anderen europäischen Ländern genauso. Wer Israel hört, hat erst mal tausend Bilder im Kopf. Die meisten Bilder haben die im Kopf, die noch nie dort waren. Ich war knapp einen Monat in Tel Aviv und danach zwei Monate in Jerusalem. Und habe ein Land erlebt, zu dem mir fast nur Superlative einfallen. Aber der Reihe nach.
Tel Aviv, Anfang Oktober, meistens sind es um diese Jahreszeit noch 25-30 Grad, der Himmel ist blau, der Strand voll. Voll von Menschen, die aussehen, als hätte das Leben nur Sonnen- und keine Schattenseiten. Braun gebrannte, perfekte Körper, stylishe Beachwear, junge Paare knutschen im Sand. Andere trimmen ihre Baywatch-Figuren in Open-Air-Fitnessstudios oder joggen die Promenade entlang. Nicht wenige haben einen Hund, der nebenher joggt.

Schnell, schnell

Man kann die Israelis dafür bewundern, dass sie das Leben so genießen, obwohl die Hamas regelmäßig Raketen abfeuert, obwohl der Iran an der Atombombe bastelt, und obwohl die wirtschaftliche Lage gerade für die junge Generation oft düster ist. Man kann den süßen Hedonismus im säkularen Tel Aviv faszinierend finden, oder so wie ich eher ein bisschen befremdet sein. Kalt lässt einen Tel Aviv aber ganz sicher nicht.
In meinem Ulpan (Hebräischkurs) sitzen 23 Nationen in einen engen Raum gequetscht: Daria aus Serbien, Jo von den Philippinen, Rebecca aus den USA; die eine will ihren israelischen Freund heiraten, die zweite als Altenpflegerin arbeiten, die dritte ihre jüdischen Wurzeln entdecken. Und wir alle wollen diese Sprache lernen. Eine Sprache, in der Taxi und Computer nicht Taxi und Computer heißen, auch nicht so ähnlich, sondern monit und machshev. Und das ist noch vergleichsweise einfach.
Eins fällt sofort auf: Israelis fackeln nicht lange! Tshik tshak, schnell, schnell – das gilt für die meisten Lebenssituationen. Umständliche Höflichkeitsfloskeln? Kennt man nicht. Wer bist Du, woher kommst Du, was machst Du? Wer geduldig in der Schlange steht, ist selbst schuld, dass er nie drankommt.

Getrennte Welten

50 Minuten braucht Bus Nr. 480 von Tel Aviv bis zur Central Bus Station von Jerusalem. 50 Minuten auf einen anderen Planeten. Es ist

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deutlich kälter, vor allem nachts, und das erste, was ins Auge fällt, sind die vielen Haredim. Etwa ein Drittel der Einwohner gehören dem ultraorthodoxen Judentum an, sie prägen das Stadtbild.
Überhaupt spielt Religion eine große Rolle bei der Identität und Selbstdefinition der Yerushalmim. Man ist dati, also religiös, chiloni, also säkular, oder eben haredi. Dazwischen gibt es noch etliche Abstufungen. Und natürlich die Unterscheidung zwischen Aschkenasim (europäischen Juden) und Sefardim (orientalischen Juden).
Wohl nirgendwo sonst prallen so viele Kulturen, Prägungen, Mentalitäten und Lebensstile auf so kleinem Raum zusammen wie in Israels Hauptstadt. Zählt man Araber, Christen und Drusen dazu, wird das Multikulti-Bild noch bunter.
Schwierig wird es, wenn ein Familienmitglied aus dem System ausschert: Wenn der Sohn plötzlich religiös wird und nicht mehr bei den Eltern essen will, weil das, was Mama kocht, nicht koscher ist. Oder wenn die Tochter einer Haredi-Familie auf einmal Jeans tragen und in Nachtclubs gehen will.

Kleider machen Leute

Mich haben zwei Dinge gleich zu Beginn überrascht und begeistert: Jiddisch! Die Umgangssprache vieler Ultraorthodoxer, die sich wie ein drolliger, altmodischer deutscher Akzent anhört. Mehr als einmal habe ich festgestellt, dass ich das meiste davon verstehe – und dass umgekehrt meine Gesprächspartner auch mich verstehen.
Shopping in Mea Shearim! Kein Witz: Die haredischen Stadtteile von Jerusalem sind großartig, wenn man jüdische Literatur, günstige Haushaltswaren oder Falafel und Burekas kaufen will. Auch die Auswahl an Kleidern und Röcken ist gigantisch, denn religiöse Frauen tragen keine Hosen. Und nein, man sieht darin nicht zwangsläufig wie eine Vogelscheuche aus.
Apropos Kleidung: Die gilt in Jerusalem ebenfalls als identitätsstiftend. Zeig mir, was Du trägst, und ich sage Dir, wer Du bist! Säkulare Juden tragen alles, was man hierzulande auch trägt: Jeans, T-Shirts, Sneakers. Modern-Orthodoxe (auch dati leumi beziehungsweise religious zionists genannt) erkennt man oft an gehäkelten Kippot, gern auch mal an Sandalen mit Socken und einem dezenten Öko-Touch.
Frauen tragen Röcke (bunt), verheiratete Frauen zusätzlich Tücher um den Kopf (noch bunter). Übrigens kann man jüdische und muslimische Frauen leicht daran unterscheiden, dass Jüdinnen ihr Kopftuch hinten im Nacken binden, Musliminnen dagegen vorne, so dass der Hals mit bedeckt ist.
Ich wage es nicht, auch noch die verschiedenen Outfits der Haredim zu erklären, denn erstens fehlt mir das Knowhow und zweitens würde das den Rahmen sprengen. Nur so viel: Allein die Hutkrempe und die Farbe der Socken zeigen, wo man gesellschaftlich hingehört…

Kinder eine Selbstverständlichkeit

Was mich noch begeistert hat? Die Familien! Israel ist eines der kinderfreundlichsten Länder der Welt – mit einer Geburtenrate, von der man in der EU nur träumen kann. Drei Kinder pro Frau, in Jerusalem sogar vier. Zugegeben: Die meisten Kinder bekommen Haredim und Araber. Doch auch für säkulare Frauen ist Kinderkriegen etwas Selbstverständliches, und die bei uns herrschende Hysterie um dieses Thema versteht man nicht.
Ich habe Frauen in meinem Alter getroffen, die während ihres Master-Studiums vier Kinder bekommen haben und jetzt Vollzeit arbeiten. Und sie leiden weder an Burnout, noch werden sie von anderen Frauen zickig als Rabenmütter beschimpft.
Und sonst? Dass man immer und überall über Politik spricht? Ich mochte das. Dass der Verkehr in Jerusalem eine Katastrophe ist und der Bus oft Stunden im Stau steht? Dass Vermieter „Luxuswohnungen“ anbieten, in denen grüner Schimmel wuchert und die letzte Renovierung 35 Jahre her ist? Gut, das mochte ich weniger.
Aber dass ich jeden Schabbat zum Essen eingeladen wurde, dass ich mich nicht eine Sekunde lang einsam gefühlt habe, dass zehn Monate im Jahr schönes Wetter ist… Was soll ich sagen?! Ich habe hier nur einen Bruchteil meiner Eindrücke geschildert, und natürlich sind sie komplett subjektiv. Also: hinfahren, kennenlernen! Und nicht irgendwelche Klischees nachplappern…

Stephanie Bilges ist Redakteurin im Ressort Politik bei Bild. Sie war mit dem Ernst Cramer & Teddy Kollek Fellowship in Israel

Photo Credit: Israeltourism, Yoavelad

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