04242024

Ariel Scharon (1928-2014)

Eine persönliche Erinnerung

Vom Haudegen zum Staatsmann

Ariel Scharons Persönlichkeit besaß mehr Facetten als die eines rigorosen israelischen Generals und eines am Ende gescheiterten Politikers. Der kräftige Mann verstand sich zuvorderst als Jude. Als ich ihn im Juli 1984 als junger Redakteur der WELT auf seiner Melonenfarm am Rande der Negev-Wüste besuchte, um ihn über Israels Politik und zu seiner Person zu befragen, bekannte Scharon: „Ich habe für Israel

Former Israeli Prime Minister Ariel Sharon dies age XX

Kriege geführt und Siege errungen. Ich liebe Israel, doch in erster Linie bin ich Jude.“

Wenn man mit Ariel Scharon diskutierte, statt ihn kritiklos zu bewundern oder ihn abgrundtief zu hassen, verstand man, dass ihm das Wort „Jude“ mehr bedeutete als ein Religionsbekenntnis. Es machte für ihn vor allem eine Lebenshaltung aus. Seine Eltern waren nach dem Ersten Weltkrieg aus Weißrussland vor militanten Antisemiten nach Palästina, das spätere Israel, geflohen. Shmuel Scheinermann gab seinem Sohn den Namen Ariel, was „Löwe Gottes“ bedeutet. Er war entschlossen, seinen Sohn zu einem wehrhaften Israeli zu erziehen, der, anders als die ängstlichen europäischen Juden, jederzeit bereit war, auch mit der Waffe für seine Rechte zu kämpfen. „Stark und unabhängig“ zu sein, keine Schwäche zu zeigen, wurde zu Ariels Lebensmaxime.

Retter des Vaterlands

Die überwiegende Mehrheit der heutigen Israelis wurde nach der Staatsgründung 1948 geboren. Unabhängigkeit ist für sie, anders als für die Generation Scharons, der 1928 zur Welt kam, eine Selbstverständlichkeit. Doch geblieben ist ihnen aufgrund der an Verfolgungen reichen jüdischen Geschichte, die in der Schoa mündete, die latente Angst um ihre Sicherheit. Da Scharon diese Angst teilte und sein Leben fortwährend mit allen Mitteln dagegen ankämpfte, ergab sich eine tragfähige Gemeinsamkeit. Selbst Israelis, die die oft brachiale Kampftaktik des Generals ablehnten, seine offensive Politik gegenüber den arabischen Staaten und sein hartes Vorgehen gegen die Palästinenser nicht gut hießen, vertrauten das Schicksal ihres Staates in Stunden der Gefahr – die in Zion fast nie abreißen – lieber dem rigorosen Kämpfer Scharon als Verständigung heischenden Politikern an. Denn sie waren überzeugt, diese „Peaceniks“ wären den aggressiven örtlichen Diktatoren wie dem Ägypter Gamal Abdel Nasser, den syrischen Gewaltherrschern Hafez al-Assad und seinem Sohn Baschar oder dem Iraker Saddam Hussein beziehungsweise den iranischen Mullahs, die offen die Zerstörung Zions ankündigen, nicht gewachsen.

Ariel Scharon dagegen hatte bewiesen, dass er als General in der Lage war, sein Land aus der Gefahr zu retten. Als die Armeen Ägyptens und Syriens am höchsten jüdischen Feiertag, dem Jom Kippur, im Oktober 1973 gleichzeitig überraschend angriffen, gelang es ihren Truppen, die unvorbereiteten Einheiten Zions in die Defensive zu drängen. Kairos Heere überrannten Israels Befestigungen am Suezkanal und drangen tief in die Sinai-Halbinsel ein. Israel stand am Rande einer Niederlage. Verteidigungsminister Moshe Dayan orakelte dunkel vom Untergang Zions. Da setzte der reaktivierte Reservegeneral Scharon entgegen ausdrücklichen Befehl des Generalstabs in Tel Aviv mit einer Handvoll Panzern auf das afrikanische Ufer des Suezkanals über, baute einen Brückenkopf aus, holte die übrigen Tanks und Soldaten seiner Division nach, und rollte auf die ägyptische Hauptstadt Kairo zu. Auf diese Weise zerschnitt Scharon die Nachschublinien der arabischen Armeen und brachte Ägyptens Streitkräfte an den Rand des Zusammenbruchs. Die israelischen Soldaten, ja bald die ganze Nation, feierte

Scharon_2

Scharon fortan als „Arik, König Israels“.

Der militärische Ruhm als Retter des Vaterlands kräftigte Scharons ohnehin mächtiges Ego. Er nahm wieder einmal seinen Abschied und

gründete den national-liberalen Likud. Denn Ariel Scharon hatte, im Gegensatz zu seinen Altersgenossen, nie etwas mit der sozialistischen Kibbuz-Bewegung im Sinn. Scharon wollte als Bauer frei von genossenschaftlichen Zwängen arbeiten. Damit traf er wiederum das Lebensgefühl der Israelis ab den 70er Jahren.

Moralisches Desaster

1981 erfüllte sich Scharons Traum. Er wurde Verteidigungsminister und damit – endlich – Oberbefehlshaber der Armee. Scharon nutzte seine neue Machtfülle

Jeder andere hätte resigniert, nicht so Ariel Scharon. Ungebrochen bereitete er sein politisches Comeback vor. Auch das ist jüdisch. Man darf sich von keinem Rückschlag, von keiner Katastrophe unterkriegen lassen. Nur so konnte das Judentum über zwei Jahrtausende trotz ständiger Verfolgung überstehen. Selbst der Holocaust, dem ein Drittel der Juden zum Opfer fiel, konnte den Lebensmut der Hebräer nicht brechen. Im Gegenteil. Danach kämpften sie umso härter für ihren jüdischen Staat. Scharon drückte es mir gegenüber so aus: „Das Leben ist ein Riesenrad. Im Moment bin ich unten, doch es wird nicht lange dauern, dann bin ich wieder obenauf.“umgehend, um die palästinensische Untergrundarmee Al Fatah im Libanon anzugreifen. Ein katastrophaler Fehler. Scharon versuchte, die politische Frage der palästinensischen Unabhängigkeitsbestrebung mit schierer militärischer Gewalt zu diktieren. Hinzu kam ein moralisches Desaster. Mit Jerusalem verbündete christliche Milizen richteten ein Blutbad unter Palästinensern an – die israelische Armee griff nicht ein. Ein israelischer Untersuchungsausschuss gab Scharon die Schuld, denn er trug als Minister die politische Verantwortung. Scharon musste sein Amt aufgeben.

Voran zum Frieden

Ariel Scharon brauchte 17 Jahre, bis er sich von einem politisch Verfemten zum Regierungschef hochgekämpft hatte. Im Jahre 2000 wählten die Israelis Arik Scharon zu ihrem Regierungschef – nicht zuletzt aus Angst vor dem palästinensischen Volksaufstand, der Intifada. Ein Besuch Scharons auf dem Tempelberg diente als Alibi für den Ausbruch des Aufstands. Doch in seiner neuen Funktion als Regierungschef begriff Scharon unverzüglich, dass das politische Amt des Ministerpräsidenten weitere Perspektiven verlangte als das eines Feldherrn. Statt Kriege zu gewinnen, ging es nun darum, Waffengänge durch eine kluge Politik zu vermeiden. Der Premier verstand, dass Israel sich aus dem Gazastreifen zurückziehen musste, um ständige Angriffe auf Soldaten und Siedler zu vermeiden. Dies bedeutete auch die Aufgabe der jüdischen Siedlungen, deren Bau Scharon einst betrieben hatte. Da er Palästinenser-Chef Arafat für einen „Terroristen und Lügner“ hielt, entschloss sich Scharon zu einem einseitigen Rückzug aus dem Gazastreifen. Als ihm der Likud unter Führung von Netanyahu dabei nicht folgen wollte, verließ er als Parteigründer sein politisches Kind und rief ein neues Parteibündnis ins Leben, „Kadima“, Vorwärts. Er wollte Israel voran zum Frieden führen. Die Begleitumstände der Räumung Gazas zeigten, dass Scharon nach wie vor militärisch, nicht politisch dachte. Der ungeregelte Abzug Jerusalems ermöglichte es der militanten islamistischen Hamas, in Gaza die Macht zu erobern und fortan den Krieg gegen Israel zu intensivieren. Scharon konnte das Scheitern seiner Politik nicht mehr wahrnehmen.

Israels Ministerpräsident Benyamin Netanyahu sollte aus Scharons Fehlern und Wandlungen lernen. Auf Dauer kann der jüdische Staat seine Existenz nicht allein auf Waffengewalt gründen. Und sei seine militärische Überlegenheit noch so groß. Israel muss in die politische Offensive gehen. Das weiß Netanyahu. Bereits 2009 befürwortete er öffentlich die Gründung eines palästinensischen Staates, der friedlich Seite an Seite mit Israel leben sollte. Netanyahu muss sich von der Einsicht zur politischen Tat bewegen. Die Palästinenser sind zerstritten, die Hamas will Zion gewaltsam vernichten. Die nukleare Bedrohung durch Iran besteht fort. Daher muss Jerusalem das Risiko einer politischen Lösung eingehen. Der Preis wird unter anderem die Aufgabe der jüdischen Siedlungen im Westjordanland sein. Ariel Scharon und dessen Vorgänger Menachem Begin haben erfahren müssen, wie schwer dieser Verzicht ihren Wählern, den nationalen Israelis fällt. Doch der jüdische Staat hat keine Alternative. Wenn Israel bestehen und sich die Akzeptanz der freien Welt erhalten will, muss es für den Frieden kämpfen. Das sollte das Vermächtnis Ariel Scharons für jede israelische Regierung sein.

Photo Credit: picture alliance / dpa

What Next?

Related Articles